Nach dem Mord an dem Polizisten Rouven Laur in Mannheim ist die Debatte darüber entbrannt, ob man Straftäter nach Afghanistan abschieben sollte, oder nicht.
Bei der Recherche dazu stieß ich auf ein recht frisches Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 11. April 2024. Hintergrund war folgende Schlagzeile eines regierungskritischen Internetportals unter Leitung von Julius Reichelt aus dem August 2023: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“
Millionen Euro für das Talibanregime?
Die Bundesregierung ging gegen die Veröffentlichung vor, scheiterte aber zunächst vor dem Landesgericht Berlin. Das Kammergericht Berlin dagegen urteilte gegenteilig und mit Beschluss vom 14. November 2023 wie folgt: Juristische Personen des öffentlichen Rechts könnten zivilrechtlichen Ehrenschutz gegenüber Angriffen in Anspruch nehmen, durch die ihr Ruf in der Öffentlichkeit in unzulässiger Weise herabgesetzt werde. Ein solcher Ehrenschutz könne jedenfalls dann geltend gemacht werden, wenn die konkrete Äußerung geeignet sei, die juristische Person schwerwiegend in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. So liege es hier. Es bestünde die Gefahr, dass bei der Bevölkerung der Eindruck entstehe, die Bundesregierung zahle Entwicklungshilfe an ein Terrorregime, das die Rechte der Bevölkerung mit Füßen trete. Dies könne Zweifel in das Vertrauen der Arbeit der Bundesregierung und ihre Funktionsfähigkeit wecken.“
Gericht sorgt sich um Vertrauen in die Arbeit der Bundesregierung
Ich habe keine Ahnung, für welche juristische Person des öffentlichen Rechts das Kammergericht hier mitdenkt, Ich nehme aber an, dass damit die Entwicklungsministerin Svenja Schulze gemeint sein könnte.
Wir kennen die Aussage der Außenministerin Baerbock, dass Abschiebungen „wegen der Menschenrechtslage in dem Land nicht mehr möglich seien, seit die Taliban dort an der Macht sind. Mit der Schreckensherrschaft der Taliban ist Afghanistan in die Steinzeit zurückgefallen. Frauen sind zu Hause eingesperrt, Folter und Verfolgung an der Tagesordnung. Aus gutem Grund schieben wir daher nach Afghanistan nicht ab.“
Mit dieser Beschreibung der Situation dürfte man aber nicht nur nicht abschieben, sondern müsste proaktiv alle von Folter und Verfolgung betroffenen Menschen aus Afghanistan konsequent herausholen. Einfach nur zuzuschauen wirkt unmenschlich und im höchsten Maße inkonsequent.
Auch verstehe ich nicht, warum laut Kammergericht die Gefahr bestehen könnte, dass der Eindruck entsteht, die Bundesregierung zahle Entwicklungshilfe an ein Terrorregime, dass die Rechte der Bevölkerung mit Füßen trete. Denn bei mir besteht vielmehr die Überzeugung, dass deutsche Entwicklungshilfe mindestens indirekt dem Taliban-Regime hilft.
Schauen wir genauer hin und analysieren einen Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Afghanistan-Hilfe. Es ist so, wie ich es mir dachte: Geld fließt nicht direkt an die Taliban. Manches Geld fließt in Nachbarländer, weitere Gelder fließen an die UN, an die Weltbank und an NGO’s.
Das BMZ-Engagement folge dem Grundsatz „mit Frauen für Frauen“: „Soweit Frauen in den vom BMZ finanzierten Programmen mitarbeiten und Frauen durch diese Programme erreicht werden können, setzt das BMZ das Engagement zum Erhalt der Basisversorgung fort.“
Das ist eine interessante Info. Klingt nach feministischer Außenpolitik. Afghanische Männer werden grundsätzlich für korrupter und böser gehalten als afghanische Frauen, aber ist das nicht eine fragwürdige Voreingenommenheit? Ich erinnere an das furchtbare Beschneiden kleiner afghanischer Mädchen. Die afghanischen Täter sind… afghanische Täterinnen.
Frauen für Frauen
Was in dem Bericht gänzlich fehlt, ist eine Analyse, wie und mit welchem Erfolg das Geld letztlich bei den bedürftigen Menschen ankommt. Der Bericht spricht bei den Beispielen etwas schwammig von Ernährungssicherung und hier beispielsweise vom Anbau trockenresistenter Arten und Sorten. Es würden Küchengärten und Gewächshäuser in Schulen errichtet und Einkommensmöglichkeiten für Frauen im ländlichen Bereich geschaffen (Bienenhaltung oder Geflügelzucht). Klingt nach einem vernünftigen Ansatz. Man könnte aber auch spitzfindig argumentieren, dass mit jedem produzierten Lebensmittel auch die Taliban miternährt werden.
Geld für Gewächshäuser
Zurück zum Bundesverfassungsgericht: In seiner letztinstanzlichen Entscheidung hat das BVG die Entscheidung des Kammergerichtes einstimmig kassiert und die Schlagzeile als von der Meinungsfreiheit im Sinne des Grundgesetzes Art. 5 Abs. 1 gedeckt angesehen. Die Begründung kann sich jeder selbst durchlesen. Auf dem durch das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit verursachten Schaden durch die Prozesskosten, die im sechsstelligen Bereich liegen könnten, bleiben wir als Steuerzahler vermutlich sitzen. Vielen Dank auch.
BVG-Urteil wichtig für Blogger
Ich fasse das Urteil zusammen, weil es mir als Blogger aufzeigt, dass das Betreiben einer Homepage allemal sinnvoll ist. Hätte Reichelt mit seiner Schlagzeile (und den vielen von mir verhassten Ausrufezeichen) nur auf Twitter agiert, hätte die Verurteilung sicherlich Bestand gehabt. Reichelt verknüpfte den X-Beitrag aber mit der NIUS-Homepage, wo er eben richtigerweise auch darauf hinwies, dass das Geld nicht direkt an die Taliban gezahlt wird. Das hat ihn gerettet.
Das Fatale an dieser Geschichte ist der Umstand, dass man sich in Deutschland unter Umständen bis zum BVG durchklagen muss, um seine Meinungsfreiheit durchzusetzen. Dabei sind die Gerichtskosten erträglich. Der große Kostenblock entsteht durch die Inanspruchnahme von Anwälten. Ich schätze, dass man etwa 60.000 Euro bereithalten muss, wenn man sein Recht bis hin zum BVG durchsetzen möchte. Weil dieses Geld nicht jeder hat, bleibt Meinungsfreiheit in Deutschland teilweise leider auf der Strecke. Und das ist nicht demokratisch.
BVG kassiert die Kammergerichtsentscheidung
Abschiebungen nach Afghanistan werden jetzt von vielen Politikern gefordert, auch von unserem Ankündigungskanzler Scholz. Wie das aber in der Praxis ausschauen soll – darüber schweigt man sich gemeinschaftlich aus. Eine Kommentatorin gestern Abend im ZDF brachte es auf den Punkt, in dem sie meinte, ihr fiele jetzt als einzig gangbare Methode nur das Abwerfen von Migranten mit Fallschirmen ein.
Wenn man ernsthaft abschieben will, muss man – wohl oder übel – mit den Taliban kooperieren, und – was viel schlimmer ist – Geld bereithalten. Die Katze beißt sich schmerzhaft in den Schwanz.
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